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Vertrauen

Die Petrus-Lektion: Sich trauen zu vertrauen

Das Glasfenster hinter dem Altar zieht meine Aufmerksamkeit auf sich. Es zeigt eine bekannte Szene aus der Bibel.  Aber es ist kein Motiv, das ich bisher in keiner Kirche an dieser exponierten Stelle gesehen habe. Jesus steht auf dem Wasser sein Blick ist auf den Apostel Petrus gerichtet. Dieser droht im unruhigen Meer zu ertrinken. Eine existenzielle, lebensbedrohliche Situation. In seiner Not streckt Petrus die Hand nach Jesus aus – und der ergreift sie. Eine dramatische Geschichte, zusammengefasst in vier Sätzen.

Ich setze mich in die erste Kirchenbankreihe. Meine Gedanken kreisen um den in diesem Glasmosaik festgehaltenen Moment. Warum berührt diese Szene mich so? Was macht sie für mich und offensichtlich auch für die Ev.-luth. Christus-Kirche auf der Nordseeinsel Borkum so aktuell? Bin ich, sind wir auch 2019 „Petrus“? Ist es ein Wiedererkennen, was die Faszination dieses Kirchenfensters ausmacht?

Ich zücke mein IPad und suche die passende Stelle in Mt. 14,30-31. „Als Petrus aber den starken Wind sah, erschrak er und begann zu sinken und schrie: „Herr hilf mir!“. Jesus aber streckte sogleich die Hand aus und ergriff ihn.“ Ein Hilfeschrei, ein Moment des Vertrauens und der Bestätigung: Jesus lässt alle, die an ihn glauben, nicht im Stich.

 Doch die Geschichte, die Matthäus uns im Neuen Testament erzählt, enthält viel mehr als diese packend-dramatische Schlüsselszene. Sie beginnt mit einer allen Seeleuten auf der Welt bekannten schwierigen Wetterlage. Es stürmt, der Wind türmt hohe Wellen auf. Das Boot, mit denen die Jünger auf den See Genezareth hinaus gefahren sind, wird gewaltig durchgeschüttelt. Die Mannschaft, darunter erfahrene Fischer, bekommt es mit der Angst zu tun. In dieser Krise fehlt eine entscheidende Person an Bord: Jesus. Ihr Meister, ihr Rabbi ist an Land geblieben. Er hat sie vorausgeschickt. Ohne ihn fühlen sie sich dem tobenden Meer ausgeliefert. Sie sind ohne Führung.

Ich habe in meinem Leben einige Krisensituationen erlebt. Und es gab Momente, in denen ich mich wie die Jünger orientierungslos, führungslos und der Krise hoffnungslos ausgeliefert gefühlt habe. Es gab zwar ein inneres „Wissen“: Da gibt es jemand, etwas… Aber in der konkreten Herausforderung half mir das damals nichts. Ich hatte Jesus noch nicht „erfahren“.

Die Jünger haben das zwar schon. Doch auch sie sind nur Menschen und am ver-zweifeln. Bis, ja bis sie Jesus auf dem Wasser wandeln sehen. Zunächst erschrecken sie vor dem „Gespenst“. Verständlich, denn Wasser trägt bekanntlich nicht. Doch Jesus redet mit ihnen, versichert ihnen: „Ich bin es. Ihr braucht keine Angst zu haben“. Damit erinnert er sie an die Wunder, die sie mit ihm bisher schon erlebt haben. Und nicht nur das: Am Ende der Geschichte, über die auch Johannes und Markus in ihren Evangelien berichten, gebietet er dem Sturm Einhalt, zeigt, dass er auch hier Naturgesetze außer Kraft setzen und wie seinem Willen unterwerfen kann.

Doch Matthäus bringt davor noch Petrus ins Spiel. Auch ihm ist das Geschehen nicht ganz geheuer. Aber er ist mutig, und er ist bereit ein Risiko einzugehen. Etwas zu tun, was gegen alle ihm bekannten Regeln verstößt, die er bisher für unumstößlich gehalten hat. Was ich an Petrus an dieser Stelle so schätze: Er lässt Jesus an seinen Zweifeln teilhaben. Denn um sicher zu gehen, dass es sich bei der „Erscheinung“ nicht um ein „Gespenst“ handelt, sondern tatsächlich um den leibhaftigen Jesus, bittet er diesen um etwas: „Wenn du es bist, befiehl mir, über das Wasser zu dir zu kommen“. Ich würde dieses Wort, – das in mir militärische Assoziationen weckt – eher mit „Auftrag“ übersetzen. Was Petrus in diesem Moment braucht, trifft das englische Wort „reassurence“ für mich am besten. Er weiß um den Unterschied zwischen seinen Möglichkeiten und denen von Jesus. Deshalb benötigt er diese Zusicherung, Rückendeckung, um das logisch Unmögliche zu tun. Und: Jesus zeigt Verständnis, er stärkt ihn mit seinen Worten, damit er in dieser Situation den Mut hat, sich  zu trauen zu vertrauen, im Glauben gehorsam zu sein. Damit wird das Unmögliche möglich. Petrus vertraut – wagemutig und demütig zugleich – Jesus sein Leben an, was ihn als Konsequenz dazu befähigt, wie dieser auf dem Wasser zu wandeln.

Ja, es bedarf Mut, „ins kalte Wasser zu springen“. Jesus zu vertrauen, seiner Stimmer zu folgen, Ängste hinter sich zu lassen, besonders, wenn man sich (noch) nicht sicher ist, dass das „Wasser trägt“. Ich habe meinen ersten „Vertrauens-Vorschuss-Jesus-Test“ jedenfalls nicht bereut. Und mit dieser Erfahrung, der andere folgten, wurde mein Vertrauen, mein Glaube immer tiefer – er ist inzwischen sozusagen „sturmerprobt“. Und ich habe erfahren: Jesus ist ein genialer Motivator. Wenn er einen „be-ruft“, etwas zu tun, dann „be-fähigt“ er einen auch es zu tun. Wenn dennoch Zweifel in mir hochsteigen, bitte ich wie Petrus um eine Bestätigung, ein Zeichen – was erstaunlicherweise bisher immer geschehen ist.

Petrus hat Mut gezeigt, Jesus hat ihn in seinem Vertrauensschritt bestärkt, das Wasser hat ihn getragen… Doch dann wendet er seinen Blick von ihm ab. Die unmittelbare Folge: Angst und Panik. Der Wind ist immer noch stark, die Wellen schlagen hoch. „Und ich gehe auf dem Wasser? Das kann nicht sein!“, mag Petrus in diesem Moment gedacht haben. Augenblicklich verliert das Wasser seine „Trag-Kraft“. Petrus sinkt. Im wahrsten Sinne des Wortes geht er baden. In seiner Not schreit er: „Jesus hilf mir!“ Und, wie wir schon wissen, Jesus erhört ihn, reicht im sofort die Hand und verschafft ihm so wieder „Boden unter den Füßen“ – ohne Vorwurf, nur mit einer Frage: „Warum hast du gezweifelt?“. Gemeinsam legen sie den Weg zum Schiff zurück. Jetzt kann Petrus getrost seinen Blick von Jesus abwenden und ihn auf das gemeinsame Ziel, das Schiff, richten. Er weiß: Mit Jesus an seiner Seite kann ihm nichts geschehen.  An Deck angekommen legt sich der Sturm. Und alle Jünger werfen sich vor Jesus mit den Worten nieder: „Du bist wirklich der Sohn Gottes.“

Eine starke Geschichte. Eine, die uns Mut macht. Wir dürfen Gott, Jesus vertrauen. Wir dürfen auch zweifeln, das ist menschlich. Gott hat uns erschaffen, er kennt uns, unsere Stärken und Schwächen. Er ermutigt uns, ins Risiko zu gehen, seinem Ruf zu folgen. Und selbst dann, wenn uns kurz vor dem Ziel Zweifel den „Boden unter den Füßen wegziehen“, wir im Wasser zu versinken, an Krisen zu scheitern  drohen, geht es uns wie Petrus: Die rettende Hand ist nicht weit entfernt. Es ist an uns, sie zu ergreifen. Mehr noch, wir können darauf vertrauen, dass er an unserer Seite bleibt. Das ist für mich die wichtigste Botschaft dieser Geschichte. Die Botschaft, die mich beim Betrachten des Borkumer Kirchenfensters tief dankbar werden ließ.

Beim Schreiben dieses Textes kam mir noch ein anderer Gedanke in den Sinn. Jeder von uns ist in schwierigen Lebenssituationen auf ausgestreckte Hände angewiesen – und das nicht nur „himmlisch“, sondern ganz irdisch-menschlich. Orientieren wir uns doch an Jesus, nehmen ihn als Vorbild und geben Menschen, die unsere Hilfe brauchen, Halt.

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Vergeben

geschwister wider willen – freunde aus freiem willen

Sein Vater hieß Willi. Er war Soldat,. Sein Traumberuf: Finanzbeamter. Er fiel im Krieg, bevor mein Bruder geboren wurde. Der wuchs nach der Flucht unserer Mutter aus Schlesien zunächst bei deren Schwiegereltern in Stuttgart auf.

Mein Vater hieß Paul. Er wurde in Luzern geboren, hatte aber einen deutschen Pass. Er liebte die Berge, den Vierwaldstätter See und das Leben. Er arbeitete als Bademeister im Lido. Dann kam der Krieg. Er war zum falschen Zeitpunkt bei Verwandten im Schwarzwald. Er wurde eingezogen, kam in französische Kriegsgefangenschaft. Danach ließen ihn die Schweizer nicht mehr einreisen. Er „strandete“ in Stuttgart. Dort traf er meine aus Schlesien geflüchtete Mutter. Sie heirateten. Zehn Jahre nach meinem Bruder kam ich auf die Welt.

Als ich zwei Jahre alt war, musste mein Halbbruder Oma und Opa verlassen. Der Grund: Unsere gemeinsame Mutter und mein Vater arbeiteten inzwischen beide bei der Post. Sie brauchten für mich einen Babysitter. Die schlechtesten Voraussetzungen zur Entwicklung einer Geschwisterliebe. Er wurde mit 12 Jahren aus seinem gewohnten Umfeld herausgerissen, bekam einen Stiefvater. Beide verstanden sich nicht sonderlich gut. Unsere Mutter versuchte auszugleichen. Ihre Zuwendung richtete sich in dieser Situation vor allem auf meinen Bruder. Es gab häufig Streit.

Mein Bruder lernte nach der Mittleren Reife einen Beruf, heiratete in jungen Jahren. Er und seine Frau bekamen einen Sohn. Sein Berufsleben verlief geradlinig bergauf. Bald besaß die Familie ein Eigenheim, später auch einen Schrebergarten. Vor der Tür stand ein Mercedes. Bis heute lebt er im Raum Stuttgart. Unsere Mutter war glücklich.

Vor dem Hintergrund eigener traumatischer Kindheitserfahrungen hatte sich in mir der Eindruck verfestigt: Er hat „die besseren Lebens-Karten bekommen“ – von seiner Vorgeschichte wusste ich damals nicht. Ich machte fortan, vor allem nach dem Tod meines Vaters mit 17, nur noch „mein Ding“.  Und das hieß nicht: Heiraten und Kinderkriegen, Häusle bauen und einen Obstbaum pflanzen. Nach einer Banklehre ermöglichte mir der 2. Bildungsweg meinen Traum zu studieren. Der Beruf als Journalistin, das Reisen um die Welt, brachte mir Erfüllung.

Unser geschwisterliches Verhältnis war wie Feuer und Wasser. In seinen Augen war ich eine „Emanze“. In meinen Augen war er ein „Spießer“.  Unsere Mutter versuchte zu vermitteln. Doch wir begegneten uns vorzugsweise und eher notgedrungen nur zu Familientreffen. Mehr als Small Talk war nicht drin.

Ich war schon in den 40ern und er in den 50ern als wir das erste Mal versuchten, eine Brücke zu bauen: auf „neutralem“ Boden, in einem Restaurant in Berlin. Er erzählte mir seine Kindheitsgeschichte und ich ihm meine. Die Erkenntnis „oh, nicht nur ich habe gelitten, sondern auch der andere“, brachte die ersten gegenseitigen Vorurteile zum Einsturz. Aus der zementierten Abwehrhaltung wurde eine Art befriedete Koexistenz.

Bis daraus eine tragfähige Brücke wurde, dauerte es allerdings nochmals ein gutes Jahrzehnt. Den Anstoß dazu gab der Alterungsprozess unserer Mutter. Beim Tod ihrer vermögenden Schwester hatte es in der Verwandtschaft Erbstreitigkeiten gegeben. Wir wussten unausgesprochen beide, dass sie befürchtete, dass auch wir uns nach ihrem Tod in die Haare bekommen würden. Ich machte mir darüber keine Sorgen. Mein Bruder hatte einfach zu viel  von der Finanz-Korrektheit seines Vaters geerbt. Ich begann mir über etwas anderes Gedanken zu machen. Werden wir uns nach der Beerdigung unserer Mutter, die auf 90 zuging, noch jemals sehen? Schließlich waren wir sozusagen die letzten „Mohikaner“ der Familie.

Im Dezember 2010 war es soweit: Unsere Mutter lag im Sterben. Wir gingen beide ganz unterschiedlich damit um. Er organisierte, ich kümmerte mich eher, begleitete sie. Kurz vor ihrem Tod kam es deshalb zwischen uns beiden zu einer Auseinandersetzung – der ersten überhaupt. Mein Bruder hatte für unsere Mutter am Sterbebett noch Zukunftspläne geschmiedet – obwohl wir alle wussten, dass sie nur noch ein zwei Tage leben würde. Ich drängte ihn deshalb zu einem Gespräch auf den Flur. Dort bat er mich darum – wieder ganz sachlich – die Todesanzeige zu formulieren. Das brachte das Fass zum überlaufen. Ich hielt mit meiner Meinung über dieses widersprüchliche Verhalten nicht hinterm Berg. Da sah ich plötzlich wie er glasige Augen bekam. „Wir haben eben unterschiedliche Weisen mit dieser Situation umzugehen“, meinte er hilflos. Mein Bruder zeigte Emotionen! Ich war sprachlos und gerührt. Spontan nahm ich ihn in den Arm. Ganz geheuer war ihm diese Reaktion sichtlich nicht, aber er ließ es zu.

Unsere Mutter starb am nächsten Tag. Ich konnte ihr unter vier Augen noch erzählen, dass wir uns versöhnt haben. Meine letzte „alles ist gut“- Botschaft hatte dabei einen weicheren Tonfall bekommen – vielleicht hat sie es noch gefühlt.

Seit ihrem Todestag ist das „Kriegsbeil“ zwischen mir und meinem Bruder begraben. Nach und nach ist daraus zunächst ein „Friedensbäumchen“ und dann ein „Freundschaftsbäumchen“ geworden. Mein Bruder und seine Frau besuchen mich regelmäßig und ich schaue bei ihnen vorbei, wenn ich im Raum Stuttgart zu tun habe. Inzwischen haben wir uns auch etwas zu sagen. Die Zeit des Small Talks gehört der Vergangenheit an. Und: Wir entdecken immer mehr Gemeinsamkeiten. Mutter sei Dank.

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Texte

Unter dieser Rubrik findest du immer wieder neue Texte ….

Zur Einstimmung zwei Zitate …

„Wähle deine Worte mit Bedacht: Bedenke stets der Worte Macht“

Zitat von Wolfgang Lörzer (*1950), VHS-Dozent und Autor

„Worte sind der Seele Bild“.

Deutsches Sprichwort

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Tigerperle & Tigerzebra

2 Kurzgeschichten – 2 „Mutmacher“

Booklets können bestellt werden – Lesungen auf Anfrage

Textprobe „Die Tigerperle“

Der Tiger, der nicht wusste, dass er ein Tiger war, lag erschöpft auf dem Boden seines Käfigs. Sein Fell war struppig und übersäht von Wunden und Narben. Kein Wunder, denn in den vergangenen Jahren war er immer wieder gegen die Gitterstäbe seines Gefängnisses angerannt. Aber weder seine Zähne, noch seine Krallen noch seine pure Körperkraft hatten diese bezwingen können. Im Gegenteil. Je mehr er gegen sie anrannte, umso dicker und unüberwindlicher schienen sie zu werden. Nun lag er zermürbt, traurig und entkräftet am Boden – erschöpft und am Ende seiner Weisheit.

Da fiel sein Blick auf einen Löwen, der in einer Ecke seines Käfigs lag und ihn liebevoll aber kopfschüttelnd anschaute. „Was, wie, wo kommst du denn plötzlich her?“ fragte der Tiger den Löwen überrascht. „Ich war schon immer hier, aber du hast mich nie wahrgenommen. Du warst viel zu beschäftigt damit, die Gitterstäbe zu bezwingen“, erklärte der Löwe mit sanfter Stimme. Er schien froh darüber zu sein, dass der Tiger ihn endlich bemerkte. „Und, was machst du hier?“ fragte ihn dieser. „Ich bin hier, um dir etwas zu zeigen“, antwortete der Löwe. Gemächlich stand er auf und ging zu den Stäben. Dort angekommen warf er dem Tiger einen viel sagenden Blick zu und – der Tiger war fassungslos – marschierte  einfach durch die Stäbe hindurch auf die andere Seite des Käfigs.

„Wie, wie… begann dieser stotternd – wie hast du das gemacht?“ „Ganz einfach“, antwortete der Löwe. „Die Stäbe sind eine Illusion, DEINE Illusion. In der Realität sind sie nicht vorhanden. Deshalb existieren sie für mich nicht.“ „Das ist nicht möglich“, entgegnete der Tiger bestimmt. Während er das noch sagte, spazierte der Löwe würdevollen Schrittes zurück in den „Käfig“.

Das muss ein Zaubertrick sein, dachte der Tiger und schien erleichtert über diese Erkenntnis. Denn die Erklärung des Löwen schien ihm doch etwas absonderlich. Waren seine Schrammen nicht sichtbarer Beweis für die Existenz der Gitterstäbe? „Was hast du zu verlieren?“ fragte der Löwe, der offensichtlich Gedanken lesen konnte. „Stell dir einfach vor, die Gitterstäbe wären nur Lichtsäulen und strecke deine Tatze durch sie hindurch.“ Der Tiger überlegte. Vielleicht hatte der Löwe ja Recht, so unwahrscheinlich es auch klang. Vielleicht, das wäre die logische Erklärung, war dies aber nur ein Traum…? Sei´s drum, ein Versuch konnte nicht schaden. Also tat er, wie der Löwe ihm geheißen. Erstaunt zog er seine Tatze zurück – es hatte funktioniert. „Jetzt geh mit deinem ganzen Körper durch die Stäbe“, ermunterte ihn der seltsame Gast.

Der Tiger nahm allen Mut zusammen und setzte zum Sprung an, denn er wollte dieses Experiment schnell hinter sich bringen. Als er mit halbem Körper auf der anderen Seite war, verließ ihn jedoch das Vertrauen. Er blieb zwischen den Stäben stecken. Zu seiner Verwunderung fühlte er keinen Schmerz. Aber die Lage schien aussichtslos, denn es ging weder vor noch zurück. Hilfe suchend rief er nach dem Löwen, der ihn schließlich in diese Lage gebracht hatte „Was nun?“, fragte er mit einem vorwurfsvollen Unterton in der Stimme. „Entspann dich, lass los“, lautete die Antwort. Gut, dachte der Tiger und ließ sich zurück in den Käfig fallen – dies schien ihm momentan die sicherste Variante zu sein…

Textprobe „Das Tigerzebra“

Mit Bedacht biss Phyllis in den knackigen Apfel. Mmmm, er schmeckte einfach lecker. Hinter ihr vernahm sie ein leises Schnauben. „Ja, ist ja schon gut. Ich weiß, es ist dein Apfel, aber heute habe auch ich Hunger,“ erklärte sie mit einem Lächeln. Vorsichtig teilte sie mit ihren Daumen den Apfel in zwei Teile und zerbrach diese dann in vier kleinere Stücke. So konnte Phyllis sie besser durch die Maschen des Zauns reichen. Dort wartete ihr vierbeiniger Freund schon mit seinem weichen Maul, um die saftigen Obstecken vorsichtig aus den Fingern des Mädchens zu nehmen.

Phyllis, die erst vor wenigen Tagen zehn geworden war, saß auf der Lehne einer Holzbank, denn so konnte sie Itschi, auf diesen Namen hatte sie das seltsam aussehende Tier getauft, besser in seine großen braunen Augen schauen. Itschi war eine Kreuzung zwischen einem Zebra und einem Pferd, deshalb stand unter dem kleinen Schild am Zaun auch das Wort „Zeberoid“. Von seinem Vater hatte es die dunklen, schwarzen Streifen, von seiner Mutter, einem Pferd, die braune Farbe dazwischen. Damit hatte es Ähnlichkeit mit dem Fell eines Tigers. Die anderen Tiere der kleinen Herde sahen aus, wie normale Zebras eben aussehen: weiß mit schwarzen Streifen – oder umgekehrt. Das Zeberoid überragte sie um einige Zentimeter.

Phyllis hatte ihren vierbeinigen Freund vor einem Jahr kennengelernt. Heute feierten sie so etwas wie ein kleines Jubiläum. Eigentlich müssten ihre Eltern auch da sein, denn die hatten ihre Tochter vor zwölf Monaten als Belohnung für eine gute Aufsatznote mit einem Zoobesuch überrascht. „Erinnerst du dich?“, fragte Phyllis das Zeberoid. Das schaute sie mit seinen großen, dunkelbraunen Augen an und nickte mit seinem Kopf, als habe es seine kleine Freundin verstanden.

Damals, es war ein Sonntag, stand plötzlich dieses kleine Mädchen vor dem Maschendraht. Da ist ja ein Tigerzebra hatte es erstaunt ausgerufen und war zu seinem Gehege gerannt. Seine Eltern eilten mit schnellen Schritten zu ihrer Tochter, um sich dieses seltsame Tier ebenfalls anzusehen. Während Phyllis Mutter das Zeberoid einfach „entzückend“ fand, meinte Phyllis Vater mit einem kritischen Unterton: „Das ist ja eine komische  Mischung, halb Pferd, halb Zebra, das gehört eigentlich gar nicht hierher“.

Phyllis schaute ihn irritiert an. Was meinte er damit? Auch ihre Eltern hatten eine unterschiedliche Haut- und Haarfarbe. Und sie hatte von beiden etwas: eine kupferfarbene Haut und blonde Haare. War sie etwa auch eine „komische Mischung“? Als sie noch klein war, hörte sie andere Frauen zu ihrer Mutter sagen, was sie doch für eine „entzückende Tochter“ hätte. Später nahm die Zahl der Leute zu, die sie forschend ansahen. In der Schule war sie eine Außenseiterin. Am Anfang hatte ihr das etwas ausgemacht, aber irgendwann legte sie sich ein dickes Fell zu. Sie flüchtete sich in die Welt der Phantasie, verschlang reihenweise Bücher und liebte die Spaziergänge im großen Park. Der begann gleich am Ende ihrer Straße und grenzte an seinem Ende an den Zoo.